Kratzige Selbstzweifel

Dieser Text entstand grösstenteils im Herbst 2022, nach zwei Jahren Aufbau meiner Selbständigkeit. Ich war damals irgendwie ernüchtert. In Gedanken malte ich mir ein Bild aus, wie mein Dasein als selbständige Coach und Supervisorin noch anders sein müsste, damit ich erfüllt und glücklich wäre. Ich fragte mich, ob das, was ich tatsächlich tat, nicht vielleicht das Falsche war.

Trotz des Privilegs, mit drei selbst gewählten beruflichen Standbeinen eigentlich nur noch selten Dinge zu tun, die mich langweilen, bin ich in diesem Herbst 2022 also oft nicht zufrieden. So weit so peinlich. Dann passiert in meinem Leben etwas, das mich stark aufwühlt und in genau den zwei Wochen, in denen ich mit zwei spannenden neuen Aufträgen beginne, stark emotional beansprucht. Und da mache ich eine interessante Erfahrung: Plötzlich habe ich keine Energie mehr dafür, nicht zufrieden zu sein. Es liegt schlicht und einfach nicht mehr drin, bei allem zu überlegen, ob ich es gut genug mache oder ob ich eventuell noch mehr leisten, mich noch verbessern müsste. Das, was möglich ist, muss plötzlich einfach genügen. Und obwohl diese zwei Wochen herausfordernd sind und anstrengend, fällt etwas Schweres von mir ab. Verwundert registriere ich, dass ich mich mitten in der Krise plötzlich leichter fühle. Leise entsteht da die Vermutung, dass diese Tatsache vielleicht einen Lichtstrahl ins Dunkel der oben genannten Ernüchterung bringen könnte.

Ich ernüchtere mich selbst. Die Freude, das Interesse an einem Arbeitsinhalt oder einer Idee überschatte ich mit (Selbst-)Zweifel. Er legt sich wie eine kratzige Decke über vieles, was mich zufrieden machen und erfüllen könnte. Ein Yogalehrer, den ich nicht kenne und bei dem ich in ebendieser Zeit in einer Lektion bin, erzählt (sei es wahr oder nicht, es trifft), der Dalai Lama habe einmal, als man ihm das Konzept des „Negative Self Talk“ erklärte, geantwortet: „Ich verstehe das Konzept. Aber warum würde man dies tun wollen?“

Ja, warum würde man dies tun wollen? Die schwere, kratzige Decke verhindert die Begegnung mit einer Welt, in der man tatsächlich scheitern oder eben auch Erfolg haben könnte. Beides ist auf je eigene Weise und wohl für jeden Menschen auf andere Weise irgendwie beängstigend. Und so blicke ich zurück und erkenne schärfer, was alles ich mit dieser kratzigen Decke bedeckt habe. Immer wenn etwas eine Herzensangelegenheit und mit der Tatsache verbunden war, dass es sich nicht nur um ein ambitionsloses Freizeitprojekt handelte, war die Decke da und führte wohl beispielsweise auch dazu, dass ich mein Gesangsstudium abbrach. Es war nicht zu ertragen, dass eventuell das Persönlichste und Berührendste, die Stimme, die Musik, nicht genügen könnte.

Natürlich drängt sich die Frage auf, wie sich diese Decke abstreifen lässt. Spoiler: Ich habe kein Rezept. Aber mir hilft es immer mal wieder, mich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Es hilft, anzuerkennen, dass es für den Lauf der Welt herzlich irrelevant ist, ob ich performe und eine Superleistung erbringe. Selbst wenn ich es ziemlich „verkacke“, ist es eigentlich in den meisten Fällen nicht wirklich existenziell schlimm. Nur wenn ich (mein Ego) im Fokus meines Blicks auf die Welt stehe, ist dies von Bedeutung. Es ist irgendwie paradox, aber es ist wohl so, dass es für ein freies, gelassenes Verfolgen eigener Ziele beides braucht (und zwar gleichzeitig!): Leidenschaft, Tatkraft und Liebe, aber auch die Bereitschaft und Fähigkeit, sich davon innerlich immer wieder zu distanzieren, sich zu desidentifizieren. Dazwischen ergibt sich vielleicht ein Raum, in dem etwas wachsen und erfolgreich sein kann und in dem auch sogenanntes Scheitern Platz hat. Und ja, das ist in der Umsetzung durchaus nicht immer einfach (man wird ja auch nicht einfach so Dalai Lama).

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  • Hier geht es zu einer Illustration, die mir gefällt: Das „Museum des Scheiterns“ von Julia Kluge. So ein Schlückchen vom Brunnen der bitteren Tränen gescheiterter Existenzen stimmt recht versöhnlich.